Das Risiko der modernen Demokratie
Veröffentlicht: 8. Dezember 2020 Abgelegt unter: DEMOKRATIE | Tags: demokratische Werte, Demos, Prof.Dr.Rudolf Burger Ein KommentarDas Risiko der modernen Demokratie
Von Rudolf Burger – Beitrag vom 10.09.2006
Sieht man von der Allerweltsvokabel „Kultur“ einmal ab, so findet sich in der öffentlichen Debatte heute kaum ein Begriff, der semantisch so verwahrlost ist wie der Begriff „Demokratie“. Er fungiert als Gefäß für alles Gute und Schöne, das man sich im politischen Leben nur wünschen kann, von der Friedfertigkeit und Toleranz bis zur Menschenliebe gibt es nichts, was das Wort „demokratisch“ nicht an Versprechen enthielte. Und was einem nicht passt, das bezeichnet man als „undemokratisch“. Im Namen der Demokratie wird interveniert, protektioniert und diskriminiert, vor allem wird in ihrem Namen moralisiert.
Deshalb war in letzter Zeit viel von „demokratischen Werten“ die Rede, und weil ein bisschen Pathos nicht schaden kann, hat man gleich die „demokratischen Grundwerte“ beschworen: die Menschenrechte und die Humanität.
Aber so wertvoll diese Werte auch sind, demokratische Werte sind sie nicht. Und dies nicht deshalb, weil sie undemokratisch wären, sondern weil es überhaupt keine demokratischen Werte gibt. Es gibt demokratische Strukturen und Verfahrensweisen, aber es gibt keine ethische Norm, die unablöslich mit Demokratie verbunden wäre, es liegt ganz im Gegenteil im dynamischen Wesen der Demokratie, dass sie alle Werte zur Disposition stellt; sie selbst ist moralisch leer. Demokratie ist formal oder sie ist keine, und der Begriff einer „inhaltlichen Demokratie“ ist politisch eine Mogelpackung.
Demokratie heißt Herrschaft des Demos, also Volksherrschaft, und die ist, nimmt man den Begriff in seiner prägnanten Bedeutung, nicht unbedingt erfreulich. Denn reine Demokratie hat ihren Fluchtpunkt nicht in der Freiheit, in deren Namen sie propagiert wird, sondern in Diktatur und Terror.
Die gesamte klassische Staatstheorie hat das gewusst, von Platon über Kant bis Hegel, nur die heutige Politik-Rhetorik hat es vergessen gemacht. Deshalb redet man von Populismus, will man die negativen Züge der Demokratie hervorheben. Doch der Begriff Populismus ist bloß die latinisierte Form von Demokratismus. Und er Populist ist die moderne Gestalt des Demagogen, der sein Vorbild hat an Perikles, dem größten aller Demagogen.
Wenn legitime Herrschaft tatsächlich „vom Volk“ ausgeht, und nur von ihm ohne nähere Qualifikationen, dann gibt es kein wie immer geartetes Kriterium, diese Herrschaft zu begrenzen – jedes Gesetz, jede Verfassung, jeder „Gesellschaftsvertrag“, das heißt, jede Selbstbindung des Volkes steht grundsätzlich immer zu seiner Disposition.
Die Souveränität des Volkes kennt kein Jenseits, dessen normativer Kraft es unterworfen wäre, und jede eigene Entscheidung kann es revidieren; deshalb auch die Fragwürdigkeit von „Grundwertekatalogen“, die immer so tun müssen, als seien sie der Geschichte entzogen, was der Idee der Demokratie frontal widerspricht. Eine Grenze findet die Souveränität nur in der von anderen Völkern, aber das sind Machtfragen immanenter Natur, keine einer transzendent begründeten Moral, auch keine demokratischen Ursprungs.
Daher ist der moderne massendemokratische Staat immer strukturiert von Prinzipien, die selbst nicht demokratischer Natur sind, die er zwar braucht, um funktionieren zu können, die er aber gerade als demokratischer grundsätzlich auch immer bedroht: Garantierte Rücksicht auf Minderheiten und Schwache, Liberalität, Gewaltenteilung, Repräsentativität und vor allem Legalität sind wichtige politische, aber nicht demokratische Prinzipien, so wenig wie Höflichkeit, Toleranz, Weltoffenheit und Humanität demokratische Tugenden sind. Sie sind Tugenden per se, die auch unter anderen Herrschaftsformen möglich sind.
Demokratie ist eine Form politischer Herrschaft, die eine unbegrenzte Vielzahl realer Ausprägungen kennt, von der direkt-plebiszitären über die parlamentarisch-repräsentative und die monokratische Präsidialherrschaft bis zu ihrer Selbstnegation in der Diktatur, die nur möglich sind, weil sie in unterschiedlicher Weise von Prinzipien durchsetzt und gestaltet sind, die selbst nicht demokratischer Natur sind.
Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie kein metaphysisches Dach über dem Kopf haben, das ihrer Legalität ein für alle mal Legitimität verleiht – demokratisch sind sie immer von Delegitimation bedroht.
In dieser „ungesicherten Diesseitigkeit“ (K. Podak) liegt die Würde, aber auch das Risiko der modernen Demokratie.
Rudolf Burger, geboren 1938 in Wien, Studium der Technischen Physik an der TU Wien (Promotion 1965), Assistent am Institut für angewandte Physik und am Ludwig Boltzmann-Institut für Festkörperphysik bis 1968; Battelle-Institut in Frankfurt/Main und Planungsstab des Bundesministeriums für Forschung und Technologie in Bonn; ab 1973 Leiter der Abteilung für sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung in Wien; 1979 Habilitation, seit 1990 Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien, von 1995 bis 1999 deren Rektor. Staatspreis für Kulturpublizistik 2000. Hauptarbeitsgebiete: Ästhetik, politische Philosophie; zahlreiche Aufsätze in „Leviathan“ und „Merkur“. Jüngste Buchveröffentlichungen: „Ptolemäische Vermutungen. Aufzeichnungen über die Bahn der Sitten“ (2001); „Kleine Geschichte der Vergangenheit. Eine pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft“ (2004); „Re-Theologisierung der Politik?“ (2005).
Demokratie
Veröffentlicht: 18. Juli 2010 Abgelegt unter: DEMOKRATIE | Tags: "Philosophisches Quartett", DEMOKRATIE, Demos, Gettysburg-Formel, Gewaltenteilung, Gleichheit, Grundrechte, Herrschaftskontrolle, Johannes Heinrichs, Mehrheitsherrschaft, Mehrparteiensystem, Partizipation, Pluralismus, Populismus, Rechts- oder Sozialstaatlichkeit, Toleranz, Volkssouveränität, Wahlen Hinterlasse einen KommentarDemokratie
Den wesentlichen Gehalt von Demokratie ergibt ein begriffsgeschichtlicher Rückblick.
Das Wort wurde bereits in der griechischen Antike geprägt und kommt von Demos (= Volk, Volksmasse, Vollbürgschaft) und kratein (= herrschen, Macht ausüben). Beides zusammen ergibt etwa Volksherrschaft oder Herrschaft der Vielen, bedeutet also Machtausübung durch den demos.
Mit Volk ist dabei das Staatsvolk gemeint, nicht eine ethnische Zugehörigkeit.
Definitorisch berühmt wurde die so genannte Gettysburg-Formel für Demokratie von Abraham Lincoln aus dem amerikanischen Sezessionskriegsjahr 1863: „government of the people, by the people, for the people“.
Eine als legitim erachtete demokratische Herrschaft geht also vom Staatsvolke aus (of), wird durch dieses (direkt oder indirekt) ausgeübt (by) und soll dem Anspruch nach im Interesse und somit zum Nutzen dieses ‚demos‘ sein (for).
Die meisten Definitionsversuche stellen jeweils einen der vielen Aspekte von Demokratie in den Mittelpunkt:
Volkssouveränität, Gleichheit, Partizipation, Mehrheitsherrschaft, Toleranz, Herrschaftskontrolle, Grundrechte, Gewaltenteilung, Rechts- oder Sozialstaatlichkeit, Mehrparteiensystem, Wahlen, Pluralismus u.v.a.
weiter bei Wikipedia: Demokratietheorien
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The American Form of Government
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Diese Einleitung soll als gedankliche Anregung dienen und uns ermutigen eine intensive Debatte über unser aller Demokratieverständnis zu führen.
Dazu möchte ich zunächst zwei Fragen in den Ring werfen:
- Müssen wir vielleicht jenseits aller Dogmen konstatieren, weit davon entfernt zu sein in einer wahren demokratischen Gesellschaftsordnung zu leben?
- Könnte es sein, dass wir hinsichtlich unseres Demokratieverständnisses einer Täuschung aufsitzen und uns bestenfalls in einem längst nicht abgeschlossenen Suchprozess befinden?
Johannes Heinrichs geht in seinem Buch „Demokratiemanifest für die schweigende Mehrheit“ noch einen Schritt weiter und wirft die Fragen auf:
„Gibt es eine innere, nicht bloß oberflächliche Synthese von direkter und liberal-repräsentativer Demokratie?
Das Ziel unseres Gedankengangs ist mindestens dreifach:
• eine innere Synthese von repräsentativer und direkter Demokratie,
• eine Lösung des schier unlösbar scheinenden Parteien-Problems,
• eine Lösung für das verhängnisvolle, scheinbar unvermeidliche Wirtschaftsübergewicht in unseren bestehenden Demokratien – auf Kosten der in Feiertagsreden beschworenen „höheren Werte“.
Das Gespenst der Demokratieverdrossenheit lässt sich nur bannen, wenn wir auf diese Fragen überzeugende Antworten finden. Wenn wir uns auch eingestehen, dass trotz des gegenteiligen Anscheins „unsere westlichen Demokratien“ und unsere so phrasenhaft viel beschworene „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ noch keineswegs über das Halbstarkenstadium hinausgewachsen ist. Weder in der Praxis noch, wie die Menschen „auf der Straße“ gutgläubig annehmen, in der Theorie.
- Was heißt denn Mehrheitsprinzip? Besteht das Wesen der Demokratie im Niederknüppeln einer Minderheit durcheine Mehrheit, die ihre vorgebliche Macht vertrauensvoll an Wenige abgibt?
- Welche Rolle spielt das Vertrauen bei der Repräsentation, und wodurch wird es gerechtfertigt? Worin besteht die Souveränität des Volkes? Darin, dass sie abgegeben wird?
- Wie stehen eigentlich die Interessengruppen mit ihren berühmten Lobbyisten zu den Parteien und welchen rechtmäßigen Platz haben sie in einer „pluralistischen“ Demokratie?
- Wie ist das mit dem anderen Pluralismus der Weltanschauungen und Religionen und den gemeinsamen Werten? Gibt es trotzdem eine demokratische „Wertegemeinschaft“?
- Welche Chancen haben eigentliche die Werte, deren Verfall stets beklagt wird, angesichts der unleugbaren Volksweisheit, dass das Geld die Welt regiert? Sind Kapitalismus und Demokratie eigentlich miteinander vereinbar?“
Zitat aus „Demokratiemanifest für die schweigende Mehrheit“ [S.21 und 22]
Im Rahmen dieses Video-Archives dürfte es kaum gelingen, klare Definitionen über die Vielfältigkeit von Demokratie oder demokratischen Prozessen zu entwickeln
Gleichwohl möchten wir Ihre Aufmerksamkeit auf Video-Dokumente, die markante demokratische Entwicklungen aufzeigen, lenken und diese gelegentlich mit spannenden Debatten um die Begrifflichkeit anreichern.
Beginnen wir mit, aus Sicht des Autors, einem besonders bemerkenswerten Diskurs mit dem Titel „Dem Volk auf’s Maul geschaut – Wie Populismus die Demokratie gefährdet“ einem Zeitdokument von 2004 aus der ZDF-Reihe „Philosophisches Quartett“.
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herzlichst
Ihr Oeconomicus