Es ist durchaus denkbar, daß Deutschland in Zukunft eine Weltmacht wird. Zur Zeit ist es das jedoch nicht. Deutschland versucht, ein Machtvakuum zu füllen, das eine zusammengebrochene Sowjetunion und ein verfallendes Amerika hinterlassen haben – aber es verfügt nicht über die Mittel.
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Erst wenn die Ostdeutschen wirtschaftlich zu ihren westdeutschen Nachbarn aufgeholt haben, wird Deutschland sein volles Potential ausschöpfen können. Doch das wird frühestens in zehn Jahren der Fall sein. Zur Zeit erwarten Deutschlands Freunde und Verbündete, alte wie neue, zu viel von diesem erst kürzlich vereinigten Land. Und die Deutschen erwarten zu viel von sich selbst.
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Sie sollen Durchbrüche bei den Gatt-Verhandlungen erzielen, Westeuropa zusammenführen, die Hilfsleistungen für den ehemals kommunistischen Osten anführen, den Bürgerkrieg auf dem Balkan beenden und Millionen von Einwanderern und Asylanten unterbringen. Das ist mehr, als die Vereinigten Staaten oder Japan, Länder, die größer und wirtschaftlich mächtiger sind, bewerkstelligen könnten. Und es ist gewiß mehr, als Deutschland, mit seinen immensen Wiedervereinigungskosten und seinen innenpolitischen Zerreißproben, leisten kann.
[…] Leslie H. Gelb — DIE ZEIT