Stationen einer Wendehals-Artistin
Veröffentlicht: 31. Januar 2015 Abgelegt unter: Angela Merkel (Bundeskanzlerin 22.11.2005 bis 08.12.2021), CDU Hinterlasse einen KommentarStationen einer Wendehals-Artistin
Rückblick: 17. CDU-Parteitag (1.–2. Dezember 2003, Leipzig)
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Auszüge aus dem Bericht der Vorsitzenden der CDU Deutschlands und Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Dr. Angela Merkel MdB
[Hervorhebungen by Oeconomicus]
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Wie wir alle wissen, werden solche Vorträge idR von erfahrenden Ghostwritern vorbereitet und entwickelt. Danach erfolgt die inhaltliche und semantische Feinabstimmung.
Matthias Graf von Kielmansegg (Young Leaders-Mitglied der Atlantik-Brücke e.V.)
bis 2010 Leiter des politischen Planungsstabes des Bundeskanzleramtes und Redenschreiber von Angela Merkel. Danach wurde er auf eigenen Wunsch Gruppenleiter in der Abteilung 3 im Kanzleramt, wo er für Gesellschaftspolitik, Bildung und Forschung zuständig ist. Aktuell ist er im BMBF als MinDir für Strategie- und Grundsatzfragen verantwortlich.
„Die Probleme sind klar und wohl auch von jedem in diesem Raum akzeptiert. Aber wir müssen noch über etwas anderes debattieren: Es fehlt in unserem Land an einer der wesentlichen Voraussetzungen für die Gesundung unseres Landes:
Es fehlt an Vertrauen – Vertrauen in die politische Führung, Vertrauen in die ökonomische und soziale Kraft, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Chancen und Möglichkeiten.
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In Deutschland greift in dieser Situation ein Stück Fatalismus um sich, und zwar mit all seinen Folgen. Die Menschen begreifen das, was passiert, nicht mehr im Gesamtzusammenhang, sondern beziehen es nur auf sich. Einschnitte und Kürzungen werden als Angriffe auf den eigenen Lebensstandard wahrgenommen.
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Sie fragen sich: Wo ist mein persönlicher Nutzen? Was bringt mir eine Reform? Wo ist die große Linie?
Daraus folgt:
Reform kann man nicht gegen oder ohne die Menschen – oder über die Köpfe hinweg – gestalten, sondern nur mit ihnen.
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Was ich möchte und was wir vermitteln müssen, ist:
Die Bürger müssen die Perspektive haben, dass sich das, was ihnen vom Staat zugemutet wird, für sie auch auszahlt. Das muss nicht unbedingt heute sein, vielleicht noch nicht einmal morgen, wohl aber am Ende des Weges. Das ist die Aufgabe unserer politischen Wirtschaft: Am Ende des Weges müssen die Menschen wissen, dass konkrete Anstrengungen konkrete Gegenleistungen bringen.
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Natürlich haben die Menschen ein Recht auf Sicherheit im Alter. Natürlich wollen wir auch in Zukunft angemessene medizinische Betreuung. Und natürlich sollen die Menschen eine Perspektive auf einen Arbeitsplatz haben, damit sie ihren Beitrag für das Land leisten können.
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Liebe Freunde, Wohlstand und Sicherheit für Veränderungsbereitschaft und Leistung – das ist der Reformvertrag, den wir, die Christlich Demokratische Union, den Menschen in diesem Land anbieten. Das ist unser Credo.
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Was heißt hier eigentlich, das Fortleben in künftigen Generationen in das Zentrum der Lebensgestaltung der Menschen rücken, wenn gleichzeitig in vielen Fällen die Erfahrung gemacht wird:
„Wenn ich mich für eine Familie mit Kindern entscheide, geht es mir materiell und sozial schlechter“?
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Was heißt denn, das Fortleben in künftigen Generationen in das Zentrum der Lebensgestaltung zu stellen, wenn die Älteren unsicher darüber sind, was für sie dabei herauskommt und wenn die Jüngeren Sorge darüber haben, dass ihre soziale Sicherheit in Gefahr ist?
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Was heißt es denn, an diesen Gemeinsinn zu glauben, wenn ich täglich spüre, wenn ich zum Arzt gehe:
„Der Weg ist eigentlich ein Weg in die Zwei-Klassen-Medizin“?
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Und was heißt es hier eigentlich, aus wirtschaftlichem Erfolg heraus einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten?
Das kann ja ein Satz aus den 80er-Jahren, vielleicht sogar aus den 70er-Jahren sein.
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Wissen Sie, wir Ostdeutsche denken manchmal:
„Seitdem wir dabei sind, funktioniert der Westen auch nicht mehr so, wie es einmal der Fall war.“ –
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Sie, liebe Freunde aus dem Westen, denken:
„Seitdem die Ostdeutschen dabei sind, ist es mit den goldenen alten Zeiten vorbei.“ –
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Was heißt hier eigentlich „wirtschaftlicher Fortschritt“? Erleben wir ihn noch?
Spätestens seit der deutschen Einheit sind hier neue Fragen aufgetaucht. Ferner könnte ich fragen:
„Ist denn nun wirklich derjenige, der sich anstrengt, der, der auch Leistung in der Gesellschaft bekommt?
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Ist nicht eigentlich der Ehrliche der Dumme? Was ist denn mit der Schattenwirtschaft? Was ist denn mit den Steuerflüchtlingen? Was ist denn mit dem Sozialmissbrauch in unserer Gesellschaft?“ –
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Worte und Taten klaffen für viele Menschen in diesem Lande auseinander.
Das müssen wir ernst nehmen, liebe Freunde. Ansonsten finden wir nicht die richtigen Antworten.
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Deshalb stellt sich die Frage: „Was kennzeichnet unsere Gemeinschaft?“ –
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Edmund Stoiber hat vor kurzem in einem Interview einen Satz gesagt, den ich sehr nachdenkenswert finde. Er sagte nämlich:
„Die Deutschen leiten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl nicht wie andere Länder vor allem aus einem Nationalgefühl heraus ab, sondern aus dem Vertrauen in den Rechts- und Sozialstaat.“
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Aber ich frage:
„Was passiert denn, wenn genau dieses Vertrauen in den Rechts- und Sozialstaat schwindet? Wenn das Dickicht von Gesetzen und Verordnungen für die Leute überhaupt nicht mehr überschaubar ist? Was bleibt uns, den Deutschen im Jahr 2003, denn dann in einer wirtschaftlichen Krise, in einer Phase, wo wir uns zum allerersten Mal in dieser Bundesrepublik fragen:
Geht es weiter aufwärts oder geht es vielleicht mit dem Lebensstandard auch abwärts?“
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Deshalb müssen wir uns genau diese Frage politisch stellen und fragen:
„Was bedeutet sie für uns, die wir dieses Land gestalten wollen?“
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Da glaube ich, wir müssen erstens unser Selbstverständnis richtig beschreiben. Es ist ja unbestritten:
Es war das Vertrauen in den Rechts- und Sozialstaat, das dieses Land nach 1945 stark gemacht hat. Es war „Made in Germany“; es war die Deutsche Mark; es war die Soziale Marktwirtschaft; es war das Wirtschaftswunder, auf das wir stolz waren und im Übrigen immer noch sind. Es waren vor allem diese Dinge, mit denen sich die Menschen in unserem Lande identifizieren konnten.
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Wir erleben es doch in vielen sachpolitischen Diskussionen:
Kaum einer kann sich doch verkneifen, uns in der Zuwanderungsdiskussion sofort in eine rechte Ecke zu stellen.
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Ich habe über die Fragen „Wie empfinden Menschen ihr persönliches Leben?“ und „Glauben sie, dass es gerecht zugeht?“ gesprochen. Man muss natürlich darüber sprechen, dass es den Missbrauch des Asylrechts gibt. Man muss natürlich sagen:
Die Folge können nur Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung sein. Alles andere wird in der Bevölkerung keine Akzeptanz finden.
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Wie wollen wir denn den Menschen in unserem Lande erklären – ich weiß, dass man Gerichte nicht kritisieren soll -, dass zwar ein christliches Kreuz in der Schule nicht aufgehängt werden darf, dass aber extra ein Gesetz gemacht werden muss, um einer Lehrerin zu verbieten, ein Kopftuch zu tragen? Das passt doch nicht zusammen.
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Deshalb ist es richtig, dass Annette Schavan – viele Kultusminister werden folgen – mittlerweile einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht hat, mit dem man versucht, das Beste aus den gegebenen Bedingungen zu machen und das Tragen eines Kopftuchs in der Schule erst einmal zu verbieten. Sie hat unsere ganze Unterstützung bei diesem Projekt.
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Es ist doch – das kann keiner in Abrede stellen – im Wesentlichen das christliche Erbe, auf dem sich unser einigendes Europa aufgebaut hat. Deshalb fordern wir – ich finde es richtig, dies zu fordern -: Was Europa ganz wesentlich eint, gehört als Gottesbezug auch in die Präambel eines Verfassungsvertrags eines Europas.
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Quelle:
17. Parteitag der CDU Deutschlands – 1.–2. Dezember 2003, Leipzig
Protokoll (s. PDF – ab Seite 20) – dokumentiert und veröffentlicht: Konrad-Adenauer-Stiftung