Die Sprache als Fessel des Denkens ?
Veröffentlicht: 25. Juli 2014 Abgelegt unter: BEWERTUNGEN ZUM ZEITGESCHEHEN, Neokratie | Tags: Sprache als Fessel des Denkens, wittgensteinsches Diktum Hinterlasse einen KommentarGefangen in der Sprache
Sprachliche Prägung und politisches Vorurteil
Wozu dient Sprache? Dies ist natürlich eine triviale Frage, wenn es um die Sprache des Alltags geht.
Nichts unterscheidet menschliches so sehr von nichtmenschlichem Leben wie der alltägliche Gebrauch der Sprache, und schon deswegen ist menschliches Leben ohne Sprache für Menschen schwer vorstellbar.
Dies unter anderem erklärt ein Diktum wie das wittgensteinsche „In der Sprache wird alles ausgetragen“.
Für Menschen naheliegend ist es daher auch, von den Möglichkeiten der Sprache geradezu begeistert zu sein. Die Unmöglichkeiten der Sprache indes werden dabei allzu leicht übersehen.
Unter Menschen wird nicht buchstäblich alles in der Sprache ausgetragen, aber wann immer es um das Denken geht, um die Entwicklung von Gedanken und mehr noch um deren Kommunikation, steht ihnen in der Tat nichts anderes als Sprache zu Gebote.
Die Sprache ist diejenige Errungenschaft, die der menschlichen Spezies erst ihre langsamen Fortschritte in Kultur und Wissenschaft ermöglicht hat.
Eine wichtige Rolle kommt dabei den Fachsprachen einzelner Wissensdisziplinen zu, so alltagsfremd diese auch oft erscheinen mögen. Auch und gerade fachspezifische Gedanken können nicht gedacht werden, wenn sie nicht in Sprache formuliert werden oder zumindest in Sprache übersetzbar sind. Die Fachsprache ist die Ermöglichung spezialisierten menschlichen Denkens.
Sprache im Allgemeinen und Fachsprache im Besonderen gehen allerdings menschlichem Denken nicht voraus, sondern sie sind selbst ein Produkt von Gedanken. Auch die Fachsprache ist ein Reflex darauf, was gedacht worden ist, was gedacht wird und was gedacht werden könnte, und auch ihre Entwicklung gehört insofern zur Entwicklung menschlichen Denkens.
Manchmal mag es scheinen, als sei die Sprache dem Denken eher voraus, manchmal, als hinke sie eher hinterher, aber letzten Endes sind doch Sprache und Denken stets aufeinander angewiesen.
Wenn es rückblickend gelegentlich so scheint, als warteten Worte darauf, nachträglich mit Gedanken gefüllt zu werden, oder als warteten Gedanken darauf, nachträglich in Worte gefasst zu werden, sind dies allenfalls kurzfristige Begleiterscheinungen gedanklicher Evolution.
Die Sprache als Fessel des Denkens
Dennoch gibt es natürlich immer wieder Gedanken, die, wären sie nur früher gedacht worden, viel menschliches Elend hätten vermeiden können und die daher – im Nachhinein betrachtet – viel zu spät in die Welt gekommen sind.
Viele solche Gedanken hätten in der Tat früher gedacht werden können, hätte ihnen nicht die verfügbare Sprache im Weg gestanden. Viele andere Gedanken wurden zwar zeitig gedacht, aber weil sie noch in keine hinreichend gängige Alltags- oder Fachsprache gefasst werden konnten, waren sie nicht zeitig kommunizierbar.
In beiderlei Fällen erweist sich das angewiesensein auf Sprache als eine fatale Fessel des Denkens, sei es des Vor-, des Mit- oder des Nachdenkens.
Daneben verführt eine etablierte Sprache natürlich auch immer wieder dazu, unzeitgemäße, überflüssige und irreleitende Gedanken zu denken, die nur im Kleid eben dieser etablierten Sprache noch den falschen Anschein von Nützlichkeit erwecken können.
Dies ist nicht etwa ein Mißstand, der sich mehr oder weniger von allein verlöre, sondern er wird, ganz im Gegenteil, schlimmer. Der Grund hierfür ist, dass die Sprache wandlungsresistenter ist als die Welt, deren sie habhaft zu werden versucht. Die Veränderungsgeschwindigkeit der Welt wächst, weil die Menschen selbst diese Welt zunehmend rascher, wenn auch großenteils ungewollt, verändern, aber die Veränderungsgeschwindigkeit der Sprache hält hiermit offensichtlich nicht Schritt. Sie tut es zumindest nicht von allein.
Es gibt sicher vielerlei Gründe dafür, dass der Wandlungsfähigkeit der Sprache enge Grenzen gesetzt sind, aber einer der wichtigsten dürfte sein, dass der Wandel der Sprache nur kollektiv vollzogen werden kann.
Sprache ist einem Sprachkollektiv zu eigen, nicht einzelnen Individuen, und sie kann nicht allein durch individuelle Leistungen verändert werden, wie dies beispielsweise in Technik und Wirtschaft geschehen kann, in Lebensbereichen also, in denen Sprache oft keine dominante Rolle spielt.
Ganz anders verhält es sich in einem sprachdominierten Lebensbereich wie der Politik. Dort ist der Einzelne tief in das Kollektivgut der Sprache verstrickt, und zwar auch dann, wenn er neue Gedanken zu denken versucht.
Wer der Sprache in einem sprachdominierten Lebensbereich Neues abringen will, muss sich daher notgedrungen durch Berge alten Sprachschutts hindurchkämpfen, und er müsste auch andere bewegen, eben dies zu tun, wollte er seine Denk- und Sprachexperimente nicht ganz wirkungslos betreiben.
Sprache kann natürlich dem Wandel der Welt, der sie zu entsprechen versucht, nicht ewig trotzen, und sie kann sich vor allem nicht auf ewig Veränderungen des Bewusstseins- und Erkenntnisstandes verweigern.
Spätestens mit jeder neuen Generation wächst eine neue Chance, im Sprachstil und der Sprachsubstanz veränderte Wege zu gehen, und zwar in den Fachsprachen ebenso wie in der Alltagsprache.
Dennoch scheinen es ausgerechnet die Fachsprachen zu sein, die einem zeitigen Wandel besonders hartnäckigen Widerstand entgegensetzen. Einer der Gründe hierfür ist, dass es Menschen viel Mühe kostet, sich eine Fachsprache zu erschließen.
Wer sich dieser Mühe erfolgreich unterzogen hat, dem bleibt selten noch die Kraft, die Grenzen einer Fachsprache zu ermessen und gegen diese Grenzen aufzubegehren. Schon deswegen ist die Begeisterung über die Beherrschung der Fachsprache unter ihren Nutzern im Allgemeinen weit größer als die Entgeisterung darüber, welche Fesseln sie ihnen auferlegt. Dies umso mehr, je mehr Mühe zur Beherrschung einer Fachsprache aufzuwenden ist.
Je schneller aber der Weltaspekt, dem eine Fachsprache gerecht zu werden versucht, sich wandelt, desto eher wird sie zu einer Barriere des Denkens, auch wenn noch so viel Mühe in sie investiert sein mag.
Diese Gefahr ist umso größer, je schwerer sich sprachlich etablierte Meinungen durch experimentelles Wissen testen und damit in Frage stellen lassen. Schwer ist dies beispielsweise in Fachgebieten wie dem Rechtswesen, der Pädagogik, dem Steuerwesen und der Ökonomie, in denen fundamentale Experimente häufig Generationen-Projekte sind, oder der Staatskunde, wo sie sogar Jahrhundertprojekte sein können. Besonders für diese Wissens- und Denk-Disziplinen wäre das obige wittgensteinsche Diktum demnach nicht als Feststellung zu formulieren, sondern als höchst irritierte Fragestellung: „In der Sprache wird alles ausgetragen?“ Die passende Antwort hierauf wäre ein entgeistertes Ja.
Neues Denken durch Weiterentwicklung der Sprache
Es hilft natürlich wenig, nur einer Entgeisterung über die Sprache das Wort zu reden. Die Sprache, wie sie ist, setzt dem Denken Grenzen, aber die Lehre hieraus kann nur sein, dass beim Versuch, Neues zu Denken, immer auch ein Nachdenken über die Sprache am Platze wäre. Der Entwicklungsstand der Sprache sollte demnach so wenig für selbstverständlich genommen werden wie etwa der Entwicklungsstand experimenteller Wissenschaftsdisziplinen.
So wie das experimentelle Wissen sich andauernd wandelt, wären auch andauernd sprachliche Sedimente alten Denkens beiseite zu räumen, und zwar in vollem Bewusstsein ihrer denkhemmenden Wirkung. Gerade in der bestehenden Welt raschen Wandels sollte dies nicht erst dann geschehen, wenn die Notwendigkeit hierzu durch lange leidvolle Erfahrung unabweisbar geworden ist.
Sprache sollte vielmehr von vornherein als Ermöglichungsraum gedacht werden, der immer auch neue Gedanken wirkungsvoll befördern, beheimaten und kommunizierbar machen sollte.
Viel wäre in diesem Sinne schon erreicht, wenn die Sprache, insbesondere aber die Fachsprachen, von ihren Nutzern von vornherein als Mittel zu einem Zweck angesehen würden, dem Zweck auch der Ermöglichung neuen Denkens nämlich und nicht dem des bequemen beharrens auf altem.
Eine solche Relativierung der Sprache würde zumindest jener Art von Glaubenskriegen und ideologischen Schlachten ein Ende bereiten, deren falsch verstandener Ernst bis in die Gegenwart hinein die Geschichte nicht nur des Denkens geprägt hat.
Hierfür bedarf es nur der Erkenntnis, dass zumindest auf lange Sicht eben nicht alles in der verfügbaren Sprache ausgetragen werden kann, schon gar nicht in den verfügbaren Fachsprachen, und dass gerade diese daher viel offener für den Wandel sein müssten, als sie es in der Vergangenheit waren.
Die Möglichkeiten der Sprache zu erweitern und sich dabei von emotionalen Bindungen an etablierte Begriffen zu lösen, das war bisher immer mindestens eine Generationen-Aufgabe gewesen. Die Politik ist der Bereich, in dem dies auch für eine breite Öffentlichkeit rückblickend immer wieder zu beobachten war.
Zu den eindrucksvollsten Beispielen für starke und lang andauernde emotionale Bindungen an sprachliche Konventionen gehören politische Begriffe wie Sozialismus und Demokratie.
Dies sind aber auch Beispiele dafür, dass etablierte Begriffe sehr plötzlich als inhaltsleer oder als unzeitgemäß durchschaut werden können und dass hieraus ebenso unerwartet ein Gefühl sprachlicher Leere, aber auch inhaltlicher Substanzlosigkeit erwachsen kann.
Nirgendwo wäre es daher so notwendig wie im Bereich des Politischen, sich um Sprachentwicklung möglichst weit vorausschauend – und damit vorbeugend – zu bemühen.
Dies aber könnte nur dann gelingen, wenn irgendwann nicht mehr der Anspruch bestünde, noch prägnante Aussagen über die Politik als ganze formulieren zu können. Je vielfältiger nämlich Politik als Ganzes wird, desto unzeitgemäßer wird dieser Anspruch und desto zwangsläufiger mündet er in inhaltsleere Abstraktionen, von denen beispielsweise die Sprache des Sozialismus durchwirkt war und mittlerweile auch die Sprache der Demokratie durchwirkt ist.
Wenn die Illusion fiele, das Ganze der Politik noch auf kurze und knappe Formeln bringen zu können, könnte sich daher viel leichter eine Sprache entwickeln, in der politisches Denken offener für Neues wäre, als es je war.
Eine solche Sprache könnte die Sprache der Neokratie sein.