Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes

Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP

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A. Problem und Ziel
Die Risiken für die Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes sind seit dem Beginn der Finanzkrise im Jahr 2007 weiter gestiegen. Die Staaten der Eurozone benötigen daher schlagkräftigere Mechanismen für ein effektiveres Krisenmanagement zur Unterstützung überschuldeter Staaten, die eine angemessene und mit marktwirtschaftlichen Prinzipien vereinbare Kostentragung des Privatsektors ermöglichen. Im Rahmen der gegenwärtigen Diskussionen haben Überlegungen zur Einführung von Umschuldungsklauseln („Collective action clauses“) eine zentrale Rolle übernommen. Im Kern sind diese Klauseln darauf gerichtet, staatliche Umschuldungen zu erleichtern, indem hierfür benötigte Beschlüsse der Gläubiger an Mehrheitserfordernisse gebunden werden, die unterhalb der Einstimmigkeit liegen.

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Bereits Ende des Jahres 2011 hatten sich die Staaten der Eurozone auf Musterbestimmungen für Umschuldungsklauseln verständigt. Der am 2. Februar 2012 von allen Staaten des Euro-Währungsgebietes unterzeichnete Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus verpflichtet nunmehr die Staaten des Euroraumes zur Einführung solcher Umschuldungsklauseln ab dem 1. Januar 2013, deren rechtliche Wirkung in allen Rechtsordnungen des
Euro-Währungsgebietes jeweils gleich zu sein hat. Aus diesem Grund ist künftig die Verwendung von Umschuldungsklauseln durch Ergänzung der Emissionsbedingungen von Bundeswertpapieren mit einer Laufzeit von über zwölf Monaten vorgesehen.
Diese Klauseln kommen nur im Fall eines drohenden Zahlungsausfalls zur Anwendung.

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Dem Bundesschuldenwesengesetz, das die Aufgaben und Instrumente des Schuldenwesens regelt, werden Vorschriften hinzugefügt, die die Möglichkeit vorsehen, Umschuldungsklauseln in die Emissionsbedingungen des Bundes einzuführen. Wesentliche Inhalte der beabsichtigten Ergänzung der Emissionsbedingungen werden im Sinne eines Leitbilds verankert.

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Hierbei trägt der Gesetzentwurf dem Umstand Rechnung, dass Emissionsbedingungen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 119, 305, 312) Allgemeine Geschäftsbedingungen darstellen und daher einer gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Nach dem für eine Inhaltskontrolle grundlegenden Maßstab des § 307 Absatz 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) dürfen Allgemeine Geschäftsbedingungen den Vertragspartner des Verwenders nicht unangemessen benachteiligen. Die wesentlichen Grundgedanken der Umschuldungsklauseln sollen mit diesem Änderungsgesetz verankert werden. Das Bundesschuldenwesengesetz übernimmt somit die Funktion eines Leitbilds, das die wesentlichen Inhalte der unter den Eurozonen-Staaten abgestimmten Umschuldungsklauseln nachzeichnet.

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B. Lösung

Um die Einführung von Umschuldungsklauseln im Bereich der Bundeswertpapiere zu ermöglichen, ist das Bundesschuldenwesengesetz im Hinblick auf mögliche gerichtliche Inhaltskontrollen um ein Leitbild für solche Klauseln zu ergänzen. Dieses Leitbild enthält wesentliche Elemente der von den Staaten der Eurozone vereinbarten Musterbestimmungen.

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C. Alternativen
Keine.

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D. Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand
Zusätzliche Haushaltsausgaben sind infolge der Durchführung des Gesetzes nicht zu erwarten.

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E. Erfüllungsaufwand

E.1 Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen und Bürger
Der Gesetzentwurf enthält keine Regelungen, die zu einem Erfüllungsaufwand bei Bürgern führen.
E.2 Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft
Es entsteht kein Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft, da die Anwendung des Gesetzes im Rahmen der Einführung der Umschuldungsklauseln insoweit keine Auswirkungen hat.
E.3 Erfüllungsaufwand der Verwaltung
Es entsteht kein Erfüllungsaufwand für die Verwaltung, da die Anwendung des Gesetzes im Rahmen der Einführung der Umschuldungsklauseln insoweit keine Auswirkungen hat.

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F. Weitere Kosten


Auch zusätzliche Kosten, insbesondere in der Finanzbranche, entstehen nicht.

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Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1
Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes
Das Bundesschuldenwesengesetz vom 12. Juli 2006 (BGBl. I S. 1466) wird wie folgt geändert:
1. Nach § 4 werden die folgenden §§ 4a bis 4k neu eingefügt:
§ 4a – Einführung von Umschuldungsklauseln
Die Emissionsbedingungen der vom Bund begebenen Schuldverschreibungen mit einer ursprünglichen Laufzeit von über einem Jahr können Klauseln enthalten, die
zum Zwecke der Umschuldung eine Änderung der Emissionsbedingungen durch Mehrheitsbeschluss der Gläubiger mit Zustimmung des Bundes ermöglichen (Umschuldungsklauseln).
Die Umschuldungsklauseln können auch die Möglichkeit zur einheitlichen Beschlussfassung für Schuldverschreibungen verschiedener Anleihen vorsehen
(anleiheübergreifende Änderung). Soweit Emissionsbedingungen nichts Abweichendes vorsehen, gelten für die Umschuldungsklauseln die §§ 4b bis 4k.

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§ 4b – Mehrheitsbeschlüsse der Gläubiger
(1) Die Gläubiger können insbesondere folgende Umschuldungsmaßnahmen beschließen (wesentliche Beschlüsse):
1. die Verringerung der Zinsen, die Veränderung ihrer Fälligkeit, die Verringerung oder die Veränderung des Verfahrens zu ihrer Berechnung;
2. die Verringerung der Hauptforderung, die Veränderung ihrer Fälligkeit oder die Veränderung des Verfahrens zu ihrer Berechnung;
3. die Änderung der Währung der Schuldverschreibungen oder des Zahlungsortes;
4. die sonstige Änderung einer Zahlungsverpflichtung des Bundes;
5. die Freigabe oder die Änderung einer Garantie oder einer sonstigen Sicherheit, sofern die Freigabe oder die Änderung der Bedingungen nicht bereits ausdrücklich vertraglich vorgesehen sind;
6. die Änderung der Umstände, bei deren Vorliegen die Schuldverschreibungen vorzeitig gekündigt werden können;
7. die Änderung der Rangfolge der Forderungen aus den Schuldverschreibungen;
8. die Änderung des anwendbaren Rechts, sofern die Schuldverschreibungen nicht dem deutschen Recht unterliegen;
9. die Änderung des Gerichtsstands, sofern in den Emissionsbedingungen ein ausländischer Gerichtsstand vereinbart wurde.
(2) Die Gläubiger beschließen entweder in einer Gläubigerversammlung oder im Wege einer schriftlichen Abstimmung.
(3) Beschlüsse, die in einer Gläubigerversammlung gefasst werden, bedürfen einer Mehrheit von mindestens 50 Prozent des bei der Beschlussfassung vertretenen Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen.
Wesentliche Beschlüsse, die in einer Gläubigerversammlung gefasst werden, bedürfen einer Mehrheit von mindestens 75 Prozent des bei der Beschlussfassung vertretenen Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen.
Wesentliche Beschlüsse, die in einer Gläubigerversammlung gefasst werden und eine anleiheübergreifende Änderung betreffen, bedürfen einer Mehrheit von mindestens 75 Prozent des bei der Beschlussfassung vertretenen Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen hinsichtlich aller von der Änderung betroffenen Anleihen sowie einer Mehrheit von mindestens 66 2/3 Prozent des bei der Beschlussfassung vertretenen Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen hinsichtlich jeder einzelnen von der Änderung betroffenen Anleihe.
(4) Beschlüsse, die im Wege einer schriftlichen Abstimmung gefasst werden, bedürfen einer Mehrheit von mindestens 50 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen.
Wesentliche Beschlüsse, die im Wege einer schriftlichen Abstimmung gefasst werden, bedürfen einer Mehrheit von mindestens 662/3 Prozent des
Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen.
Wesentliche Beschlüsse, die im Wege einer schriftlichen Abstimmung gefasst werden und eine anleiheübergreifende Änderung betreffen, bedürfen einer Mehrheit von mindestens 66 2/3 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen hinsichtlich aller von der Änderung betroffenen Anleihen sowie einer Mehrheit von mindestens 50 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen hinsichtlich jeder einzelnen von der Änderung betroffenen Anleihe.
(5) Die Gläubiger können den Inhalt wesentlicher Beschlüsse und den für eine Mehrheit erforderlichen Nennwert der ausstehenden Schuldverschreibungen abweichend von den Absätzen 1, 3 und 4 festlegen; eine Beschlussfassung hierüber gilt als wesentlicher Beschluss.
(6) Die Mehrheitsbeschlüsse der Gläubiger sind für alle Gläubiger derselben Anleihe und bei einer anleiheübergreifenden Änderung für alle Gläubiger der von der Änderung betroffenen Anleihen gleichermaßen verbindlich.
Wesentliche Beschlüsse, die eine anleiheübergreifende Änderung betreffen und bei denen die erforderlichen Mehrheiten nur hinsichtlich einiger der von der Änderung betroffenen Anleihen erreicht werden, sind für die Gläubiger dieser Anleihen verbindlich, wenn der Bund die Voraussetzungen, die hierfür gegeben sein müssen, vor einem von ihm bestimmten Termin (Stichtag), der höchstens fünf Geschäftstage vor der Gläubigerversammlung oder dem Beginn der schriftlichen Abstimmung liegen darf, bekannt macht und wenn diese Voraussetzungen auch tatsächlich vorliegen.
(7) Mehrheitsbeschlüsse der Gläubiger bedürfen stets der Zustimmung des Bundes.
(8) Der Bund hat die Beschlüsse der Gläubiger unverzüglich bekannt zu machen.

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§ 4c – Stimmrecht
(1) An Beschlussfassungen der Gläubiger nimmt jeder Gläubiger nach Maßgabe des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen teil, die er am Stichtag hält.
(2) Eine Schuldverschreibung gilt insbesondere dann als nicht ausstehend, wenn sie
1. der Bund hält oder
2. ein vom Bund beherrschter Rechtsträger hält und dieser Rechtsträger bei einer Beschlussfassung nicht frei abstimmen kann.
Ein Rechtsträger ist als vom Bund beherrscht anzusehen, wenn der Bund unmittelbar oder mittelbar berechtigt ist, der Geschäftsleitung des Rechtsträgers Weisungen zu erteilen oder wenn der Bund die Mehrheit der Mitglieder eines Aufsichtsrats oder vergleichbaren Aufsichtsorgans des Rechtsträgers wählen oder sonst berufen kann. Ein Gläubiger kann frei abstimmen, wenn er bei der Abstimmung
1. keinen Weisungen des Bundes unterliegt,
2. gemäß einem objektiven Sorgfaltsmaßstab im eigenen Interesse oder dem Interesse seiner Teilhaber handeln muss oder
3. aufgrund einer treuhänderischen oder ähnlichen Pflicht im Interesse einer Person handeln muss, die keine Schuldverschreibungen hält, die als nicht ausstehend anzusehen wären.
(3) Die Gläubiger können abweichend von Absatz 2 festlegen, unter welchen Voraussetzungen eine Schuldverschreibung als ausstehend gilt; eine Beschlussfassung hierüber gilt als wesentlicher Beschluss.
(4) Der Bund macht vor dem Stichtag eine Liste mit sämtlichen Gläubigern bekannt, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als vom Bund beherrschte Rechtsträger anzusehen sind und bei denen davon auszugehen ist, dass sie bei einer Beschlussfassung nicht frei abstimmen können.

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§ 4d – Berechnungsstelle; Bescheinigung
(1) Der Bund benennt eine zuständige Stelle, die feststellt, ob die für die Beschlussfassung der Gläubiger erforderlichen Mehrheiten erreicht sind (Berechnungsstelle).
(2) Der Bund übergibt der Berechnungsstelle vor einer Beschlussfassung der Gläubiger eine Bescheinigung, aus der ersichtlich sind
1. der Nennwert der am Stichtag ausstehenden Schuldverschreibungen,
2. der Nennwert der am Stichtag als nicht ausstehend im Sinne von § 4c Absatz 2 Satz 1 geltenden Schuldverschreibungen und
3. die Gläubiger der am Stichtag als nicht ausstehend im Sinne von § 4c Absatz 2 Satz 1 geltenden Schuldverschreibungen.
Der Bund macht die Bescheinigung so rechtzeitig vor einer Beschlussfassung der Gläubiger bekannt, dass ein angemessen verständiger und sachkundiger Gläubiger die Richtigkeit der Angaben bis zur Beschlussfassung prüfen kann.
(3) Die Angaben in der Bescheinigung nach Absatz 2 sind für alle Gläubiger und den Bund verbindlich, sofern nicht ein betroffener Gläubiger vor der Beschlussfassung der Gläubiger schriftlich und unter Mitteilung von Gründen der Richtigkeit der Angaben widerspricht und sofern nicht dieser Gläubiger einen Beschluss der Gläubiger, der auf einer unrichtigen Angabe beruht, binnen 15 Tagen nach Bekanntmachung des Beschlusses durch Klage nach Maßgabe des § 4i anficht.

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§ 4e – Einberufung der Gläubigerversammlung
(1) Eine Gläubigerversammlung kann jederzeit durch den Bund einberufen werden. Der Bund hat eine Gläubigerversammlung einzuberufen, sofern ein in den Emissionsbedingungen vorgesehener Fall der Nichterfüllung einer Zahlungsverpflichtung des Bundes eintritt und Gläubiger von mindestens 10 Prozent des Nennwerts der ausstehenden Schuldverschreibungen die Einberufung schriftlich verlangen. § 9 Absatz 2 und 4 des Schuldverschreibungsgesetzes ist entsprechend anzuwenden. Zuständig ist das Oberlandesgericht am Sitz der Deutschen Bundesbank. Die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug sind entsprechend anzuwenden. Eine Entscheidung durch den Einzelrichter ist ausgeschlossen. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist unanfechtbar.
(2) Die Gläubigerversammlung ist mindestens 21 Tage vor dem Tag der Versammlung einzuberufen. Eine vertagte Gläubigerversammlung ist mindestens 14 Tage vor dem Tag der Versammlung einzuberufen.
(3) In der Einberufung sind anzugeben
1. die Zeit und der Ort der Gläubigerversammlung,
2. die Tagesordnung, die Vorschläge zur Beschlussfassung und die Voraussetzungen der Beschlussfähigkeit,
3. der Stichtag sowie die Bedingungen, von denen die Teilnahme an der Gläubigerversammlung abhängen,
4. die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um eine wirksame Vertretung zu gewährleisten,
5. die Voraussetzungen, von denen die Verbindlichkeit von Gläubigerbeschlüssen bei einer anleiheübergreifenden Änderung abhängt, bei der die erforderlichen Mehrheiten nur hinsichtlich einiger der von der Änderung betroffenen Anleihen erreicht werden, und
6. die Berechnungsstelle.
(4) Die Einberufung ist unverzüglich bekannt zu machen.

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§ 4f – Vorsitz; Beschlussfähigkeit
(1) Der Bund bestimmt den Vorsitzenden der Gläubigerversammlung. Sofern die vom Bund ernannte Person in der Versammlung nicht erscheint, können Gläubiger, die mehr als 50 Prozent des in der Versammlung vertretenen Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen halten, den Vorsitzenden der Gläubigerversammlung bestimmen.
(2) Die Gläubigerversammlung ist beschlussfähig, wenn die Anwesenden mindestens 50 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen vertreten.
Sollen wesentliche Beschlüsse gefasst werden, ist die Gläubigerversammlung beschlussfähig, wenn die Anwesendenmindestens 66 2/3 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen vertreten.
(3) Der Vorsitzende kann eine Gläubigerversammlung vertagen, wenn sie innerhalb von 30 Minuten nach Sitzungsbeginn nicht beschlussfähig ist. Die vertagte Versammlung ist beschlussfähig, wenn die Anwesenden mindestens 25 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen vertreten. Sollen wesentliche Beschlüsse gefasst werden, ist die vertagte Gläubigerversammlung beschlussfähig, wenn die Anwesenden mindestens 662/3 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen vertreten.
(4) Die Gläubiger können den für die Beschlussfähigkeit erforderlichen Nennwert der ausstehenden Schuldverschreibungen abweichend von den Absätzen 2 und 3 festlegen; eine Beschlussfassung hierüber gilt als wesentlicher Beschluss.

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§ 4g – Vertretung
(1) Jeder Gläubiger kann sich in der Gläubigerversammlung durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Erteilung der Vollmacht bedarf der Schriftform.
Die Bevollmächtigung ist dem Bund spätestens 48 Stunden vor dem Tag der Gläubigerversammlung nachzuweisen.
(2) Der Widerruf der Vollmacht ist nur wirksam, wenn er mindestens 48 Stunden vor dem Tag der Gläubigerversammlung gegenüber dem Bund erklärt wird. Gleiches gilt für eine Änderung der Vollmacht.

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§ 4h – Schriftliche Abstimmung
Auf die schriftliche Abstimmung sind die Vorschriften über die Einberufung und Durchführung von Gläubigerversammlungen entsprechend anzuwenden.

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§ 4i – Anfechtung von Beschlüssen
(1) Ein Beschluss der Gläubiger kann wegen Verletzung des Gesetzes oder der Emissionsbedingungen durch Klage angefochten werden.
(2) Die Klage ist binnen eines Monats nach der Bekanntmachung des Beschlusses zu erheben; § 4d Absatz 3 bleibt unberührt. Sie ist gegen die Bundesrepublik Deutschland zu richten. Zuständig für die Klage ist das Oberlandesgericht am Sitz der Deutschen Bundesbank.
Die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug sind entsprechend anzuwenden. Eine Entscheidung durch den Einzelrichter ist ausgeschlossen. Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts findet die Revision nach Maßgabe des § 543 der Zivilprozessordnung statt; § 544 der Zivilprozessordnung ist entsprechend anzuwenden. Im Übrigen sind § 20 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2 des Schuldverschreibungsgesetzes sowie § 246 Absatz 3 Satz 4 bis 6 des Aktiengesetzes entsprechend anzuwenden.
(3) Vor einer rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts darf der angefochtene Beschluss nicht vollzogen werden, es sei denn, das nach Absatz 2 Satz 3 zuständige Gericht stellt auf Antrag der Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe des § 246a des Aktiengesetzes fest, dass die Erhebung der Klage dem Vollzug des angefochtenen Beschlusses nicht entgegensteht; § 246a Absatz 1 Satz 1 und 2, Absatz 2, 3 Satz 1 bis 4 und 6, Absatz 4 des Aktiengesetzes gilt entsprechend.

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§ 4f – Vorsitz; Beschlussfähigkeit
(1) Der Bund bestimmt den Vorsitzenden der Gläubigerversammlung.
Sofern die vom Bund ernannte Person in der Versammlung nicht erscheint, können Gläubiger, die mehr als 50 Prozent des in der Versammlung vertretenen Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen halten, den Vorsitzenden der Gläubigerversammlung bestimmen.
(2) Die Gläubigerversammlung ist beschlussfähig, wenn die Anwesenden mindestens 50 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen vertreten.
Sollen wesentliche Beschlüsse gefasst werden, ist die Gläubigerversammlung beschlussfähig, wenn die Anwesendenmindestens 66 2/3 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen vertreten.
(3) Der Vorsitzende kann eine Gläubigerversammlung vertagen, wenn sie innerhalb von 30 Minuten nach Sitzungsbeginn nicht beschlussfähig ist. Die vertagte Versammlung ist beschlussfähig, wenn die Anwesenden mindestens 25 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen vertreten. Sollen wesentliche Beschlüsse gefasst werden, ist die vertagte Gläubigerversammlung beschlussfähig, wenn die Anwesenden mindestens 662/3 Prozent des Nennwertes der ausstehenden Schuldverschreibungen vertreten.
(4) Die Gläubiger können den für die Beschlussfähigkeit erforderlichen Nennwert der ausstehenden Schuldverschreibungen abweichend von den Absätzen 2 und 3 festlegen; eine Beschlussfassung hierüber gilt als wesentlicher Beschluss.

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§ 4g – Vertretung
(1) Jeder Gläubiger kann sich in der Gläubigerversammlung durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Erteilung der Vollmacht bedarf der Schriftform.
Die Bevollmächtigung ist dem Bund spätestens 48 Stunden vor dem Tag der Gläubigerversammlung nachzuweisen.
(2) Der Widerruf der Vollmacht ist nur wirksam, wenn er mindestens 48 Stunden vor dem Tag der Gläubigerversammlung gegenüber dem Bund erklärt wird. Gleiches gilt für eine Änderung der Vollmacht.

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§ 4h – Schriftliche Abstimmung
Auf die schriftliche Abstimmung sind die Vorschriften über die Einberufung und Durchführung von Gläubigerversammlungen entsprechend anzuwenden.

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§ 4i – Anfechtung von Beschlüssen
(1) Ein Beschluss der Gläubiger kann wegen Verletzung des Gesetzes oder der Emissionsbedingungen durch Klage angefochten werden.
(2) Die Klage ist binnen eines Monats nach der Bekanntmachung des Beschlusses zu erheben; § 4d Absatz 3 bleibt unberührt. Sie ist gegen die Bundesrepublik Deutschland zu richten. Zuständig für die Klage ist das Oberlandesgericht am Sitz der Deutschen Bundesbank.
Die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug sind entsprechend anzuwenden. Eine Entscheidung durch den Einzelrichter ist ausgeschlossen. Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts findet die Revision nach Maßgabe des § 543 der Zivilprozessordnung statt; § 544 der Zivilprozessordnung ist entsprechend anzuwenden. Im Übrigen sind § 20 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2 des Schuldverschreibungsgesetzes sowie § 246 Absatz 3 Satz 4 bis 6 des Aktiengesetzes entsprechend anzuwenden.
(3) Vor einer rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts darf der angefochtene Beschluss nicht vollzogen werden, es sei denn, das nach Absatz 2 Satz 3 zuständige Gericht stellt auf Antrag der Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe des § 246a des Aktiengesetzes fest, dass die Erhebung der Klage dem Vollzug des angefochtenen Beschlusses nicht entgegensteht; § 246a Absatz 1 Satz 1 und 2, Absatz 2, 3 Satz 1 bis 4 und 6, Absatz 4 des Aktiengesetzes gilt entsprechend.

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§ 4j – Wirksamkeit und Vollziehung von Beschlüssen
Beschlüsse der Gläubiger, durch welche der Inhalt der Emissionsbedingungen geändert oder ergänzt wird, werden erst wirksam, wenn sie vollzogen worden sind. Sie sind in der Weise zu vollziehen, dass die Emissionsbedingungen in ihrer geänderten oder ergänzten Fassung bekannt gemacht werden.

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§ 4k – Bekanntmachungen
Die Bekanntmachungen nach § 4b Absatz 6 Satz 2 und Absatz 8, § 4c Absatz 4, § 4d Absatz 2 Satz 2, § 4e Absatz 4 und § 4j erfolgen im Bundesanzeiger und im Internet unter der Adresse der Bundesrepublik Deutschland – Finanzagentur GmbH – sowie durch die Deutsche Bundesbank.“
2. § 9 wird aufgehoben.

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Artikel 2 – Änderung des Schuldverschreibungsgesetzes
Das Schuldverschreibungsgesetz vom 31. Juli 2009 (BGBl. I S. 2512), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 52 des Gesetzes vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 3044) geändert
worden ist, wird wie folgt geändert:
1. Dem § 1 Absatz 2 wird folgender Satz angefügt:
„Für nach deutschem Recht begebene Schuldverschreibungen, deren Schuldner ein anderer Mitgliedstaat des Euro-Währungsgebiets ist, gelten die besonderen Vorschriften der §§ 4a bis 4i und 4k des Bundesschuldenwesengesetzes entsprechend.“
2. § 20 Absatz 3 wird wie folgt geändert:
a) In Satz 4 werden die Wörter „das nach Satz 3 zuständige Gericht“ durch die Wörter „ein Senat des dem nach Satz 3 zuständigen Gericht im zuständigen Rechtszug übergeordneten Oberlandesgerichts“ und werden die Wörter „Absatz 1 Satz 1, Absatz 2, 3 Satz 2, 3 und 6“ durch die Wörter „Absatz 1 Satz 1 und 2, Absatz 2 und 3 Satz 1 bis 4 und 6“ ersetzt.
b) Die Sätze 5 und 6 werden gestrichen.

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Artikel 3 – Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.

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Berlin, den 20. März 2012
Volker Kauder, Gerda Hasselfeldt und Fraktion
Rainer Brüderle und Fraktion

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Begründung

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A. Allgemeiner Teil
I. Ziel des Gesetzesvorhabens
Nachdem im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 119, 305, 312) davon auszugehen ist, dass Emissionsbedingungen Allgemeine Geschäftsbedingungen darstellen und daher einer gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegen können, sollen wesentliche Grundgedanken der auf europäischer Ebene vereinbarten Umschuldungsklauseln mit diesem Änderungsgesetz im Sinne eines Leitbildes verankert werden.
Dieses Leitbild orientiert sich eng an den zwischen den Staaten des Euro-Währungsgebiets in englischer Sprache ausgehandelten Musterbestimmungen.

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II. Wesentlicher Inhalt dieses Gesetzentwurfs

Da das Bundesschuldenwesengesetz die Aufgaben und Instrumente der Schuldenverwaltung regelt, wird dieses Gesetz um Regelungen ergänzt, die die Möglichkeit vorsehen, Umschuldungsklauseln in Emissionsbedingungen des Bundes zu verwenden. Wesentliche Inhalte der beabsichtigten Ergänzung der Emissionsbedingungen werden im Sinne eines Leitbilds verankert.

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1. Gesetzlicher Regelungsbedarf der wesentlichen Grundgedanken der Umschuldungsklauseln
a) Grundsätzliche Ausrichtung der Umschuldungsklauseln
Die zwischen den Staaten des Euro-Währungsgebietes ausgehandelten Musterbestimmungen für Umschuldungsklauseln stellen ein Kompendium von standardisierten Klauseln dar, die von allen Eurostaaten mit jeweils gleichartigem Inhalt zur Anwendung zu bringen sind. Sie verwenden harmonisierte Begriffe und Bedingungen und sind in ihrer Gesamtheit auf gleiche Marktbedingungen für alle Eurozonenstaaten ausgerichtet. Diese Gleichbehandlungskomponente soll negative Effekte aus andernfalls drohenden Wettbewerbsverzerrungen unter den einzelnen Mitgliedstaaten der Eurozone ausschließen. Die Frage, ob es Gründe geben könnte, Umschuldungsklauseln bei einem finanzstarken Emittenten anders auszugestalten als bei einem finanzschwachen Emittenten, stellte sich daher bei dem Zustandekommen dieser Musterklauseln nicht.
Generelle Zielrichtung der Klauseln ist es, die kollektive Repräsentation von Gläubigern im Fall eines drohenden Zahlungsausfalls in vielfacher Hinsicht sowohl inhaltlich zu erleichtern als auch formal zu beschleunigen. Dazu dienen Bestimmungen über Restrukturierungsverhandlungen zwischen der Gläubiger- und Schuldnerseite. Zum einen geht es um die Beziehungen zwischen Gläubigern und Schuldnern, zum anderen um diejenigen unter den einzelnen Gläubigern.
Diese lassen sich in drei Regelungskomplexe aufteilen:
Die Beschlussgegenstände von Gläubigerbeschlüssen, den Gang der Entscheidungen der Gläubiger und die Gewichtung der einzelnen Gläubiger. Die einzelnen Schritte der Beschlussfassung der Gläubiger werden geregelt – von der Einberufung einer Gläubigerversammlung bis hin zum Vollzug der Gläubigerbeschlüsse. Im Verlauf der eigentlichen Beschlussfindung über Restrukturierungsvorschläge kommt es sehr darauf an, durch eine zulässige qualifizierte Gläubigermehrheit mit Zustimmung des Schuldners die Änderung insbesondere der relevanten Anleihebedingungen wie Forderungshöhe, Fristen und sonstige Zahlungsmodalitäten durchsetzen.

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b) Anwendungsbeginn und Anwendungsbreite der Umschuldungsklauseln
In Artikel 12 Absatz 3 des am 2. Februar 2012 von allen Staaten der Eurozone unterzeichneten Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wird der Beginn der Einführung der Umschuldungsklauseln für neu emittierte Schuldverschreibungen auf den 1. Januar 2013 festgelegt. Hiervon ausgenommen sind Schuldverschreibungen mit einer Laufzeit von bis zu zwölf Monaten. Nicht erfasst sind öffentlich garantierte Anleihen, syndizierte Darlehen und Emissionen von Gliedstaaten der Staaten des Euroraumes.

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2. Änderung des Schuldverschreibungsgesetzes
Der Gesetzentwurf enthält auch zwei Änderungen des Schuldverschreibungsgesetzes. Da die Musterbestimmungen für Umschuldungsklauseln auch für alle anderen Staaten der Eurozone maßgeblich sind, sollen die zur Umsetzung der Musterbestimmungen vorgesehenen Regelungen im Bundesschuldenwesengesetz für nach deutschem Recht begebene Schuldverschreibungen dieser Staaten entsprechend anwendbar sein.
Ferner soll eine aus der Praxis angeregte Änderung des § 20 des Schuldverschreibungsgesetzes erfolgen; hierbei sollen die Regelungen für das Freigabeverfahren nach dem Schuldverschreibungsgesetz an die Regelungen im Aktiengesetz angepasst werden.

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III. Gesetzgebungskompetenz des Bundes
Für die Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes (Artikel 1) steht dem Bund die Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache zu. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Änderung des Schuldverschreibungsgesetzes (Artikel 2) folgt aus Artikel 74 Absatz 1 Nummer 1 (das gerichtliche Verfahren) und Nummer 11 (Recht der Wirtschaft) des Grundgesetzes. Der Bund hat durch das Schuldverschreibungsgesetz bereits in der Vergangenheit von seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht.
Eine bundeseinheitliche Regelung der Änderungen ist auch weiterhin im Sinne des Artikel 72 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 74 Absatz 1 Nummer 11 des Grundgesetzes erforderlich, um eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen für die Märkte zu vermeiden.

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Verwendung von Collective Action Clauses (CACs) bei der Restrukturierung von Staatsschulden im Euroraum.
Was steckt dahinter?
Dr. Annabella Kolling, R 0-13 – Deutsche Bundesbank


Was heißt Aufklärung heute?

Was heißt Aufklärung heute?

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Nachtstudio vom 20. Mai 2012:
„Was heißt Aufklärung heute? – Die neue Herausforderung“
Gäste: Heiner Geißler, Manfred Geier und Sybille Krämer.
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„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ — dieses berühmte Zitat des Königsberger Philosophen Immanuel Kant aus dem Jahr 1784 steht emblematisch für das große „Projekt Aufklärung“, das vor dreihundert Jahren in Europa seinen Anfang hatte.

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Aus meiner Sicht ein absolut sehenswertes Zeitdokument
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Ihr Oeconomicus

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Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?

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Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
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Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.
Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.
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Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.
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Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.
Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fuß-Schellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist.
Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun. Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.
Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden.
Besonders ist hierbei, dass das Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie danach selbst zwingt darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind.
Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden ebensowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.
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Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsoniert nicht!
Der Offizier sagt: räsoniert nicht, sondern exerziert!
Der Finanzrat: räsoniert nicht, sondern bezahlt!
Der Geistliche: räsoniert nicht, sondern glaubt!
(Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsoniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!)
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Hier ist überall Einschränkung der Freiheit!
Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.
Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht.
Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanismus notwendig, vermittels dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden.
Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonieren; sondern man muß gehorchen. Sofern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürger-Gesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonieren, ohne dass dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist.
So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen.
Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte) bestraft werden.
Eben derselbe handelt dem ungeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert.
Ebenso ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismus-Schülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden.
Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen.
Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was er infolge seines Amts als Geschäftsträger der Kirche lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines anderen vorzutragen angestellt ist.
Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, dass darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der inneren Religion Widersprechendes darin angetroffen wird.
Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müsste es niederlegen.
Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch: weil diese immer nur eine häusliche, obwohl noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet.
Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.
Denn dass die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.
Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unter den Holländern selbst nennt), berechtigt sein, sich eidlich untereinander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittels ihrer über das Volk zu führen und diese sogar zu verewigen?
Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein.
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Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muss, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen.
Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte.
Nun wäre dieses wohl gleichsam in der Erwartung eines besseren auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen: indem man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d.i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung noch immer fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewährt worden, dass sie durch Vereínigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim Alten wollten bewenden lassen.
Aber auf eine beharrliche, von Niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt.
Ein Mensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige Zeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten.
Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, dass er den gesamten Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, dass alle wahre oder vermeintliche Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung zusammen bestehe:
so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst machen lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden; das geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, dass nicht einer den anderen gewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben nach allem seinem Vermögen zu arbeiten.
Es tut selbst seiner Majestät Abbruch, wenn er sich hier einmischt, indem er die Schriften, wodurch seine Untertanen ihre Einsichten ins Reine zu bringen suchen, seiner Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchster Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt:
Caesar non est supra Grammaticos, als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt, den geistlichen Despotismus einiger Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen.
Wenn denn nun gefragt wird:
Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Dass die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen, schon imstande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel.
Allein dass jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen.
In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs.
Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: dass er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit wenigstens von Seiten der Regierung entschlug und Jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen.
Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche unbeschadet ihrer Amtspflicht ihre vom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden Urteile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist.
Dieser Geist der Freiheit breitet sich außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich selbst missverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, dass bei Freiheit für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das Mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohheit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.
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Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d.i. des Ausgangs der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist.
Aber die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt, geht noch weiter und sieht ein: dass selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen der Welt öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.
Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsoniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!
So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen auszubreiten.
Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.
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Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784.

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