«Abstieg ins Glück»

«Abstieg ins Glück»
Essay von David Hesse

Die finsteren Prognosen mehren sich, Europa wird ärmer, wir alle müssen sparen. Das ist kein Grund für Schwermut, behaupten Ökonomen und Politiker:
Der Niedergang wird uns gut tun.
Jetzt geht es ans Eingemachte. Europa muss sparen, die Bevölkerung sich auf den wirtschaftlichen Abstieg einstellen. Schwindende Staatsleistung, steigende Arbeitslosigkeit, geringerer Verdienst für gleiche Arbeit: Das blüht den Ländern des Südens, deren Sparwille nun fast täglich von Bankiers, EU-Beamten und Rating-Agenturen gemessen wird.
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Der vermeintliche Sieg des Westens 1989 war der Anfang des Niedergangs
Soll man verzweifeln angesichts dieser düsteren Prognosen? Nein, finden jene europäischen Politiker und Ökonomen, die sich der Austerität verschrieben haben. Das Wort steht für Sparsamkeit, aber auch für Strenge und Askese. So verstanden wird der Wohlstandsverlust als Chance gedeutet. Plötzlich preisen smarte Analysten das einfache Leben. Der Abstieg Europas, versichern sie, wird uns alle weiterbringen – politisch und ökologisch, sozial und psychologisch.
Politisch werde der Niedergang eine Neupositionierung Europas bringen. Das glaubt der renommierte China-Experte Eberhard Sandschneider von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik.
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Endlich aufgeben
Die Lösung liegt laut Sandschneider im befreienden Aufgeben. Wir müssten uns von der Idee einer «vom Westen geprägten internationalen Ordnung» verabschieden. Wir sollten «Platz machen» und von Asien lernen. Dieser Machtverlust sei Voraussetzung für die erfolgreiche Neupositionierung Europas in der von Asien dominierten Weltordnung. Ob Europa dabei primär als Ferienfunpark oder als günstiges Produktionsland dienen soll, lässt der Autor offen.
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In Deutschland mehren sich die Stimmen, die sich die armen, aber leistungsstarken Nachkriegsjahre zurück wünschen
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Big Society als Vernebelungsmetapher?
Mit dem Schwung der Nachkriegszeit käme, so die Hoffnung, auch der soziale Zusammenhalt zurück. In Grossbritannien will die konservative Regierung im Zuge der Sparmaßnahmen die Big Society auferstehen sehen – eine breite Gesellschaft der Selbstverantwortung und Solidarität. Wie nach 1945 soll das Volk auch in der heutigen Krise dichter zusammenstehen. «Big Society heisst soziale Heilung», erklärte Premierminister David Cameron, als er das Programm vorstellte. Die Menschen sollten sich wieder mehr umeinander kümmern, Nachbarschaftshilfe und Freiwilligenarbeit leisten, nicht ständig darauf warten, dass der Staat mit Blaulicht vorfährt und jedes Problem für sie löst. Für Cameron ist die Bereitschaft zur Selbstverantwortung ein Bestandteil der britischen Identität.
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Armut als warmer Ort
Trotz aller Kritik findet die Botschaft von Sparsamkeit und Selbstbeschränkung viel Gehör. Sie rührt an einen Nerv der Zeit. All jene, die den Konsumrausch der letzten Jahrzehnte zu satthaben (und das sind Hunderttausende), zeigen Verständnis für den Ruf nach mehr Bescheidenheit. Eine Abkehr von der Welt der Waren nämlich brächte neuen Raum für Wesentliches, für Freundschaften (nicht Facebook-Kontakte) und Naturerlebnisse (statt staffelweise Serien auf DVD), für frisch Geerntetes und tief Empfundenes. Wer lieber in Quartierstrassen Fussball spielt, als alleine auf dem Hometrainer zu sitzen, der hebe die Hand.
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Die Zeit der Knappheit wird zur heilen Welt verklärt
Das Sehnen nach dem einfachen Leben der Vergangenheit beschäftigt die westlichen Denker spätestens seit der industriellen Revolution und Jean-Jacques Rousseaus Hymnen an Natur und edle Wilde. Diese Sehnsucht hat uns nie mehr verlassen. Nun zeitigt sie Armutsromantik.
Im krisengeschüttelten Irland schwärmen Schriftsteller wie Hugo Hamilton von der irischen Seele, die einfach nicht gemacht sei für Wohlstand und Überfluss: «Irland hat seine Seele an den freien, unregulierten Markt verkauft und bezahlt nun den Preis dafür.»
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Wer genug Geld beiseite gelegt hat, wird die Zeit des Niedergangs am besten überstehen
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Die Zeit des Niedergangs wird schmerzhaft werden. Am besten wird sie überstehen, wer genug Geld beiseite gelegt und krisensicher investiert hat. «Also genau die Geldeliten, die die Bankenkrise eigentlich angezettelt haben», ärgert sich der Wirtschaftsprofessor Mark Blyth, der an der US-Universität Brown an einem Buch über die gegenwärtige Austeritätspolitik arbeitet. In den letzten 30 Jahren seien die Einkommensgräben immer tiefer geworden. «Da ist es doch reichlich frech von den Reichen, den Armen jetzt Sparsamkeit zu predigen, zu behaupten, das tue ihnen gut. Mal sehen, was sie sagen, wenn ihre Häuser in Flammen stehen.»
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Unterwegs ins neue Mittelalter?
Gut möglich also, dass der Abstieg doch etwas holpriger verlaufen wird, als die Verfechter der Austerität das vorhersagen. Einen ganz anderen Blick in eine arme Zukunft hat in den 70er-Jahren der italienische Schriftsteller Umberto Eco gewagt. Statt einer Neuauflage der wohlig-warmen Nachkriegszeit prophezeite er die Rückkehr des Mittelalters.
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tagesanzeiger
Empfehlung
Einfach mal jenseits aller Dogmen darüber nachdenken, ob unsere reiz-orientierte Gesellschaft wirklich das Elysium bedeutet, wahre Werte hingegen in Vergessenheit geraten sein könnten?

Ihr Oeconomicus