Krawalle nach Selbsttötung eines Rentners in Athen
Veröffentlicht: 5. April 2012 Abgelegt unter: GRIECHENLAND / GREECE, PORTUGAL | Tags: Selbst-Tötungen, Verzweiflung, Zitat Hinterlasse einen KommentarKrawalle nach Selbsttötung eines Rentners in Athen
In der griechischen Hauptstadt hat sich ein Mann wegen der Sparpolitik der Regierung umgebracht. Tausende Menschen protestierten, einige schleuderten Brandsätze.
Augenzeugen zufolge hatte der ehemalige Apotheker am Morgen auf dem Syntagma-Platz gerufen:
„Ich habe Schulden, ich halte das nicht mehr aus“,
bevor er sich erschoss.
DIE ZEIT
Auszug aus den Kommentaren
miss morningstar – 05.04.2012 um 12:54 Uhr
46. Strukturelle Gewalt
Ich antworte Ihnen nun mal, um Ihre Schematisierung zu korrigieren. Sie verweisen implizit auf die „Selbstverantwortung“ und bezeichnen die Meldung als „Hochgespielt“. Ich zitiere mal aus dem Artikel: „In seinem Mantel wurde ein Abschiedsbrief gefunden. Berichten zufolge nannte er darin die Politik sowie die wirtschaftlichen Unwägbarkeiten als Grund für seine Tat. Beides habe ihn an den Abgrund getrieben.“
Ich weiss nicht, ob Sie sich vorstellen können, was es heisst, in einem Krisenland zu „leben“. Ich kann es nur von Portugal sagen, wo ich lebe, das ja von der Troika gelobt wird für seine mustergültige Umsetzung des Sparprogramms, z.B. auch im Gesundheitswesen. Die Menschen, oft hochverschuldet und im schlimmsten Fall dann auch noch arbeitslos geworden, haben immer weniger zum Leben. Gehälter wurden teilweise um 20 Prozent gekürzt, während die Ausgaben und Lebenshaltungskosten steigen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei ca. 35 Prozent. Die Unsicherheit in einer Stadt wie Lissabon wächst massiv. In den Zeitungen war vor einigen Tagen zu lesen, dass Krebskranke im Norden Portugals nur noch die billigsten Medikamente erhalten und neue, teure Medizin nicht mehr verwendet wird.
47. Strukturelle Gewalt (2)
Mir fällt bei solchen Nachrichten immer der Begriff des norwegischen Friedensforschers Johan Galtung von der strukturellen Gewalt ein. Eine Gewalt, die indirekt wirkt und tötet, z.B. weil die gesundheitliche Versorgung aufgrund von Sparmaßnahmen nicht mehr gewährleistet ist. Das, was auf der gesellschaftlichen Ebene nicht mehr funktioniert, kann sich bei den Schwächsten der Gesellschaft in Form von Marginalisierung, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, psychischen wie auch körperlichen Erkrankungen, Gewalt etc. manifestieren, in Deutschland genauso wie in Griechenland und Portugal und anderswo. Weil wir in unseren Gesellschaften heute primär auf Konsum ausgerichtet sind – in Portugal ist das zumindest so – und verlernt haben, solidarisch und menschlich miteinander zu sein, einander zu helfen, Elend und Unglück zu ertragen, fühlen sich die, die nichts mehr haben, noch ausgegrenzter und isolierter. Und damit nimmt auch die Gefahr des Selbstmordes zu.
Alte Menschen sind sicherlich besonders sensibel, a) weil sie oft alleinstehend sind, nahestehende Menschen verloren haben, b) weil sie für das „System“ keine Leistung mehr erbringen (und es sind die Generationen, die sich stark über Leistung definiert haben) und c) weil es da nicht mehr viel gibt, worauf sie noch hoffen können als Zukunft.
48. Strukturelle Gewalt (3)
Man kann sich als Gesellschaft natürlich entscheiden, was einem wichtig ist: jeder Einzelne oder nur das Funtionieren des großen Ganzen auf Kosten vieler Menschen, die es aus verschiedensten Gründen nicht mittragen können (Arbeitslosigkeit, chronische Erkrankungen, Behinderungen etc..). Wenn man sich für Letzteres entscheidet und das haben gewissermaßen die deutschen Regierungen seit Rot-Grün getan, dann sollte man bitte den Passus von der „Würde des Menschen“ aus dem GG und aus der EU-Grundrechte-Charta streichen. Denn ganz vieles, was hier passiert, mißachtet die Würde des Menschen zutiefst.
Dieser alte Mann, der sich da auf dem offenen Platz das Leben genommen hat, ist ja nur einer von vielen Unsichtbaren, die diese Krise in die Verzweiflung getrieben hat. Doch – selbst wenn er Schulden gehabt hätte – Schulden allein sind es nie! Es sind eher und v.a. Härte und Unmenschlichkeit in der Gesellschaft und im Umgang miteinander. Und die Politik stellt dafür die Weichen. Aber die Gesellschaft, wir alle sind es, die es mitmachen oder nicht genug dagegen aufbegehren und protestieren!